„Versprecht mir, eure Chance zu nutzen“

Eichhagen. "Erst mal hätte ich gern einen Kaffee." Gestresst kam am gestrigen Mittwoch die Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft (SPD), zu einem Besuch ins Jugenddorf Eichhagen des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland (CJD). Sie hat sich im kurzen, heftigen Wahlkampf die Herkulesaufgabe vorgenommen, jeden Wahlkreis im Land zu besuchen, und gestern war unter anderem Olpe an der Reihe. Trotz aller Hektik nahm sich die Landesmutter viel Zeit – Zeit vor allem für die jungen Menschen, die im Jugenddorf aus- oder fortgebildet oder auf eine Ausbildung vorbereitet werden. "Werkstätten hab‘ ich schon mal gesehen – das Interessante hier sind doch die Menschen", erklärte sie ihren Begleitern, warum sie sich für den Rundgang weniger und für das Gespräch mehr Zeit nehmen wolle als vorgesehen.
win – Als sie ihren erbetenen Kaffee serviert bekommen hatte, suchte sie das Gespräch mit den jungen Menschen und erkundigte sich nach deren Werdegang. Dieser ähnelte sich häufig: Viele der CJD-Schüler kommen über Haupt- weiter zu Förderschulen, haben dort abgebrochen und dann im Jugenddorf eine zweite Chance erhalten, Schulabschluss oder Ausbildung zu absolvieren. "Warum hast du hier Erfolg?" wollte sie von einem jungen Mann wissen, der an einer Lese- und Rechtschreibschwäche leidet. "Hier habe ich die Motivation, die ich auf der Schule nie hatte", erklärte der junge Mann. Ein anderer erklärte, bei ihm habe es nicht an den Leistungen, sondern an seinem Verhalten gelegen, dass er eine Förderschule besucht habe. "Ich hatte keine Lust und habe nur Zoff mit den Lehrern gehabt", erklärte der junge Mann, und als er bezeugte, sich nun um "180 Grad gedreht" zu haben, bekräftigte Jugenddorfleiter Dieter Sander: "Das stimmt."

Schulwechsel oft ein Bruch
Besonders interessiert war Hannelore Kraft an der Frage, wie die Schüler ihren Wechsel von der Regel- zur Förderschule und dann zum CJD empfunden hätten. Einige erklärten, überhaupt kein Problem damit gehabt zu haben und noch heute mit den selben Freunden zusammenzusein. Die Mehrzahl bekräftigte, dass dieser Wechsel einen Bruch dargestellt habe, der vielen schwergefallen sei.

Von einer aus Russland stammenden 19-Jährigen wollte die Landesmutter wissen, warum sie eine Förderschule besucht habe. Bei ihr zu Hause werde nur Russisch gesprochen; bei der Einschulung habe sie große Sprachprobleme gehabt, so die 19-Jährige. "Da wäre es wohl besser gewesen, sie hätten in einer Kita vorher Deutsch gelernt", attestierte die Ministerpräsidentin und erntete entschiedene Zustimmung bei der heute akzentfrei deutsch sprechenden jungen Frau.

Gespräch mit Schülern und Ausbildern
Anerkennend nickte Hannelore Kraft, als ein junger Mann berichtete, er sei in einem Monat fertig und wolle dann ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kinderhospiz absolvieren. "Das ist schwer, dass wissen Sie?" so die Ministerpräsidentin respektvoll. Zum Abschluss der Runde richtete sie eine Frage an alle anwesenden Jugendlichen: "Habt ihr in der Schule je gemerkt, dass wir euch brauchen? Ist euch das je gesagt worden?" Einhelliges Kopfschütteln war die vielsagende Antwort. Ihr Fazit: "In den Schulen wird zu oft gesagt: Das und das kannst du nicht. Wir müssen dahin, dass wir sagen: Das da, das kannst du." "Die Förderschulen werden nach und nach wegfallen. Wir müssen es schaffen, dass ihr an den Regelschulen mitgenommen werdet", sprach die Ministerpräsidentin das Thema Inklusion an. Natürlich gehe das nicht ohne Weiteres; die entsprechenden Voraussetzungen wie kleinere Klassen und mehr Lehrkräfte seien zwingend. Aber "ich will nicht, dass sortiert wird", erklärte sie. Bei einem Rundgang durch die Einrichtung informierte Hannelore Kraft sich über die Friseur-Ausbildung und die Haushalts-Bereiche, in denen sie zugab, lieber zu essen als zu kochen. In der Holzwerkstatt suchte sie das Gespräch mit den Jugendlichen sowie mit Ausbilder Helmut Grunau, der seit 23 Jahren als Tischlermeister beim CJD tätig ist. "Und wie viele kriegen hier die Kurve?" wollte sie von Grunau wissen. "80, 85 Prozent", so die Antwort, und gerade der derzeitige Lehrgang sei äußerst engagiert. "Diese Truppe hier, die will." Auf SZ-Anfrage, was ihrer Meinung die Inklusion für Einrichtungen wie das CJD bedeuten werde, erklärte Hannelore Kraft: "Wir brauchen solche Einrichtungen auch weiterhin. Sie werden sich aber breiter aufstellen müssen und für junge Menschen mit wie ohne Handicap da sein." Ohnehin sei die Inklusion ein Prozess, der sich über mehr als eine Generation hinziehen werde. Am Ende des Besuchs wandte sie sich noch einmal an die Jugendlichen. "Geht ihr wählen?" so ihre Frage. Ein junger Mann bejahte: Und zwar habe er sich im Internet wie im Gespräch kundig gemacht und werde in jedem Fall zur Wahl gehen. Eine junge Frau verneinte: "Mich interessiert das Thema nicht." Das ließ die Ministerpräsidentin nicht stehen: "In anderen Ländern gibt es Menschen, die sind bereit, zu sterben, um wählen gehen zu können. Ohne Demokratie gibt es so etwas wie eine zweite oder dritte Chance nicht. Alles ist Politik." Sie verabschiedete sich vom Jugenddorf Eichhagen und seinen Jugendlichen mit einer Bitte: "Ihr versprecht mir, dass ihr die Chance nutzt, die ihr bekommen habt." Auch SPD-Landtagskandidat Reinhard Jung drückte sie die Hand: "Du weißt, wie gern ich dich wieder da hätte."